Mit dem Motorrad nach Istanbul
(2006)
Der Termin: beruflich. Eine Woche Summer School in und mit der Universität Istanbul. Die Anreise: privat. Mit dem Motorrad. Eine Reise durch den neuen alten Osten Europas soll es werden. Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Türkei. Und eine Reise, so will es meine Phantasie, in die Vergangenheit. In und durch Länder, in denen die Zeit stehen geblieben ist; Landschaften, unberührt und verwunschen; Dörfer, in denen die Kirche noch der Mittelpunkt ist; Kinder, die barfuß am Anger die Gänse hüten. Zivilisationsromantik. Der Kopf weiß das. Aber Reisen ist Bauchsache, und so halten sich die Klischees hartnäckig.
Das Motorrad: Meine BMW R 80. 20 Jahre alt. Einfacher Motor, Räder, Fahrwerk, Elektrik. Wenig Plastik und Elektronik. Die Vorbereitungen halten sich deswegen in Grenzen, und da Reifen und Batterie ohnehin neu sind, bleibt es bei Ölwechsel und einer gründlichen Prüfung aller Teile und Funktionen. Auch aus Prinzip. Wer vor 35 Jahren mit grobem Klempnerwerkzeug eine alte NSU Max wieder zusammengeschraubt, darauf seine ersten Motorradkilometer zurückgelegt und bei minus zehn Grad die Mütze (Helm? Das war ’was für Weicheier!) ein bisschen weiter runtergezogen hat, der ignoriert nicht nur die heutige Motorrad- und Ausrüstungstechnik. Er wendet sich auch angewidert ab von den Regalen der Motorradzubehör- und Globetrotter-Läden, in denen so viel Reisekrempel und Outdoor-Hightech angeboten wird, dass inzwischen jeder Dummbatz per Motorrad die Welt umrunden kann.
Auch der Papierkram ist schnell erledigt: Pass, Führer- Fahrzeugschein und die grüne Versicherungskarte reichen für die Einreise in alle Länder aus. 14 Tage will ich mir Zeit lassen; genug Zeit, um zu bummeln. Und um zu schrauben – wenn´s denn sein muss...
Abfahrt. 3000 Kilometer. Die Kids und Bikes von heute machen das in drei Tagen. Ich in zwei Wochen. Je weiter ich nach Osten komme, desto mehr Zeit will ich mir lassen. Wegen der unberührten Landschaften. Und der Dörfer mit den kleinen Kirchen in der Mitte. Und den barfüßigen Kindern. Deswegen, und wegen der Autobahn, bin ich am ersten Abend schon in Passau. Der Zeltplatz hat drei Sterne, geharkte Wege und eine detaillierte Platzordnung. Trotzdem dürfen auch Motorradfahrer rein.
Österreich ist, wie es sein soll. Voller Berge. Und an den Hängen liegen hingetupft die schönen Bauernhäuser. Mit Fachwerk in den Mauern und den üppigen Geranienbouquets an den Balkonen. Kleine Straßen mit engen Kurven; durch Täler und Pässe. Und Kids und Bikes von heute, die in den Kurven mit kratzenden Fußrasten an mir vorbei rasen. Während sie schon am Urlaubsort in Ungarn oder gar zurück in Holland sind, fahre ich am Abend durch Wien. So groß. Staus auf den vierspurigen Straßen. Feierabend-Verkehr. Völlig normal. Aber vorgestellt hatte ich mir die Stadt ganz anders. So ist das mit den Klischees. Dafür hat der Zeltplatz, am Abend und schon wieder weit hinter Wien, den Charme des Rustikalen: Eine Wiese, Wasserhähne im Freien, ein Klohäuschen mit Dusche. Na ja, es sind ja auch nur noch 20 Kilometer bis Ungarn.
Die Grenze zwischen West und dem früheren Osten. Ich schnuppere Abenteuer. Ursprünglichkeit. Fremde Menschen, die ich kennenlernen will. Und die mich in die Tradition ihres Landes und Lebens einbeziehen...
Das Coca-Cola-Logo prangt tennisplatzgroß auf dem Dach des Grenzrestaurants. Ein riesiger Parkplatz, Laster an Laster. Man spricht Geld. Der Grenzer spricht deutsch. Blättert so versiert durch meine Papiere wie ein deutscher Streifenpolizist. Und winkt mich gelangweilt weiter. Klar, Autobahn-Grenzübergang, das ist international, unromantisch. Also runter von der Europastraße, abbiegen in die Landstraße; dort hinten sind die ersten Häuser… Noch vor dem Ortsschild, auf der grünen Wiese: Aldi. Im Ort sind Penny und Lidl. Und bis Bauhaus sind´s nur 23 Kilometer.
Mich zieht es in den Osten – und Budapest ist ein Traum. Ich fahre im Morgenlicht durch die Stadt, dicht an dicht stehen die klassizistischen Häuser, viele renoviert, leuchtend weiß.
Ich kann mich kaum losreißen – und die BMW auch nicht. Sie bleibt einfach stehen. Diagnose nach einer Stunde Bastelei am Straßenrand: Kein Zündfunke. Entweder ist die Zündspule defekt oder der elektronische Zündgeber. Der ungarische ADAC schleppt mich in die BMW-Werkstatt. Die Mechaniker in ihren modernen, ganz neu wirkenden blau-weißen Monturen sehen beruhigend und Vertrauen erweckend aus. Doch zeitweise stehen sie alle fünf ratlos um die BMW herum. Wo mag denn nur der Stecker sein für das elektronische Diagnosegerät? Sorry: 1985 war Fehlersuche noch Handarbeit. Doch am nächsten Tag haben sie nicht nur den Fehler (Zündspule) gefunden, sondern mit einer gewagt aussehenden Kabelkonstruktion die BMW wieder zum Leben erweckt.
Durch die Puszta Richtung Rumänien. Kurz vor der Grenze treffe ich Mathias. Der Schweizer ist mit seiner Yamaha auf Weltreise. Vor drei Tagen ist er gestartet, in zwei Jahren will er wieder in seiner Heimat sein. Gemeinsam fahren wir durch die Karpaten. Ein bisschen Harz, ein bisschen Voralpen. Ich hatte auf ein Treffen mit Wölfen oder gar Vampiren gehofft. Aber die kommen vielleicht nur zu Vollmond. Stattdessen gibt es erst dicke Regenwolken und dann schüttet es wie aus den sprichwörtlichen Eimern. Trotz Regenkombi suchen wir nach einer Weile Schutz unter einem Tankstellendach. Entspannt schauen wir zu, wie davor das Wasser in Sturzbächen über den Asphalt strömt.
In Siebenbürgen fährt Mathias nach Osten, ich nach Süden. Bulgarien. Und hier, endlich, werden meine Klischees lebendig: Bauernmarkt. Ziegen, Hühner, Schweine, Schafe. Herde, Sessel, CDs, Hufeisen, Werkzeug. Gemüse, Gewürze, Fleisch, Kondome. Alles. Es gibt alles. Wenn man es denn sieht und dorthin kommt. Menschenmassen drängen durch die Gassen. Hier geht´s nicht weiter, weil eine quiekende Sau gerade auf den Rücksitz eines uralten Ladas verfrachtet wird. Dort ist auch kein Durchkommen, da ist der Feuerschlucker. Und zurück? Da steht jetzt ein Pferdefuhrwerk. Abseits, am Weiher, die Planwagen und die ausgespannten Pferde. Und unzählige Kinder, die im und durchs Wasser toben.
Abends bin ich am Schwarzen Meer. Weißer Strand, blaues Wasser. Strände und Orte, die ebenso am Mittelmeer liegen könnten; am Atlantik, in der Karibik, an der Ostsee: Geld ist international. Ich fahre weiter. Das erste Hinweisschild auf mein Ziel: „Istanbul 465 km“.
Die in der Karte eingezeichnete Europastraße ist in Wirklichkeit so eng, dass mich entgegenkommende Laster fast in den Straßengraben drücken. Aber ich fahre ohnehin langsam – damit ich nicht in die quadratmetergroßen Schlaglöcher stürze.
Oben in den Bergen: Die Grenze zur Türkei. Papiere, Zoll, Stempel. Und ein Vermerk im Pass, dass ich mit einem Motorrad einreise. Nach hundert Kilometern geht es abwärts; vor mir eine Ebene, an deren Ende das Marmarameer sein muss. Aber es dauert noch bis zum nächsten Tag, bevor ich es erreiche. Am späten Nachmittag bin ich 30 Kilometer vor Istanbul, und bis zum Termin dort habe ich noch zwei Tage Zeit. Ich nehme mir ein kleines Hotel, in dem ich die BMW in einem Innenhof sicher abstellen kann, verbringe die Zeit mit Schlafen, Bummeln, Schwimmen, Essen. Alles – nur nicht Motorrad fahren...
Per Telefon habe ich mit einem Kollegen von der Universität Istanbul am Fernsehturm der Stadt verabredet – denn den kann ich schon von weit vor der Stadt sehen. Die Begrüßung ist herzlich: erstens türkisch, zweitens ist unser Treffen der Beweis, dass ich es geschafft habe. 3000 Kilometer durch Europas alten, neuen Osten.
Epilog:
Für die Rückfahrt per Motorrad fehlte mir leider die Zeit, ich hatte deswegen schon in Deutschland bei einer Spedition die BMW als Flugfracht von Istanbul nach Köln angemeldet. Trotz aller vorhandenen Speditions-Papiere war es ein Abenteuer mit offenem Ausgang, die BMW in den türkischen Zollbereich zu bekommen, legal auszuführen und damit den Vermerk in meinem Pass zu löschen. Es brauchte einen privat gebuchten Zollagenten, der die BMW und mich einen ganzen Tag durch den Behörden-Dschungel führte und der dann, buchstäblich in letzter Minute, das entscheidende Dokument erkämpfen konnte.
3000 Kilometer durch Europas neuen alten Osten. Allein. Auf einer 20 Jahre alten BMW. Entschleunigung pur.
Treffen und Schwatz mit anderen Bikern in einem Cafe am Straßenrand: Wo geht´s hin, wie lange schon / noch, wie läuft die Maschine...
Basteln am Straßenrand in Budapest: Die BMW will nicht mehr anspringen. Kein Problem - dachte ich zuerst...
Ratlosigkeit in der BMW-Werkstatt in Budapest: Die Maschine ist Baujahr 1985 - da gab es noch keinen Anschluss für eine computergestütze Fehler-Diagnose. Per Handarbeit haben sie den Fehler dann doch gefunden: defekte Zündspule. Und sie sehr genial repariert.
Das Foto musste sein: BMW vor Puzta-Brunnen...
Mittagspause in Rumänien. Technik-Check, kleines Mittagessen, Kaffee, Nickerchen. Dann geht´s weiter
So hatte ich mir das vorgestellt - ein wuseliger Bauernmarkt im Nirgendwo. Während die Pferde sich von der Anreise erholen...
... wird an den Ständen angeboten, desucht, gefeilscht, per Handschlag der Kauf besiegelt.
In den ersten Tagen hat im Gepäck noch nicht alles seinen Platz. Aber nach einer Woche abladen, auspacken und Zelt aufbauen fix: Das ist hier, das ist da, das brauche ich jetzt nicht, das schon. Und morgens alles wieder andersherum.
In der Straßenkarte ist das eine "Europastraße". In "echt" sind die Schlaglöcher einen Meter breit und auch mal 10 Zentimeter tief.
Ok - war jetzt keine Weltreise. Aber schon was anderes, als jeden Morgen ins Büro zu fahren....